Liebe Gemeinde!

In den nächsten Wochen betrachten wir wie-der gemeinsam die entscheidende Phase des Lebens Jesu. Die drei Jahre des Wanderns, Lehrens und Wirkens in Galiläa und Judäa sind vorbei – und sie münden in Jerusalem am Kreuz.

Wir betrachten das Leben eines Menschen, der stirbt. Sicher, wir wissen und feiern jeden Sonntag, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, aber es ist gut, einmal bei dem leidenden, sterbenden, toten Jesus zu verweilen.

„Das Christentum ist die Religion des Mitleidens.“ Mit diesem Satz hat der Philosoph F. Nietzsche einmal das Christentum zu charakterisieren versucht. Das Mitleiden aber, so wendet er dann ein, verringere die Energie des Lebensgefühls, es wirke depressiv. „Man verliert Kraft, wenn man mit-leidet“, sagt er. Mitleid lohnt sich nicht. Es macht unglücklich, verdirbt die Freude am Leben. Vielleicht wehren wir uns innerlich gegen diese ausdrückliche Ablehnung des Mitleidens. Wir empfinden sie als hartherzig und unmenschlich. Aber deutlich macht sie doch, dass wir uns nicht so leicht tun mit dem Mitleiden. Wie unser Mitleiden aussehen kann, ist nicht so einfach zu sagen, geschweige denn zu leben. Die Aufforderung, das Leiden und Sterben Jesu zu betrachten, zur Leidensnachfolge bereit zu sein, ist uns gedanklich vertraut. Aber worin besteht sie? Was bedeutet sie konkret?

Sicherlich besteht das christliche Zeugnis der Leidensnachfolge nicht darin, dass der Christ das Leiden freudig sucht. Einen Sinn des Leidens nur um des Leidens willen gibt es nicht! Christliche Bereitschaft zum Leiden und Mitleiden hat andere Gründe. Wenn wir auf Jesu Leben schauen, müssen wir sagen, dass auch Jesus sich sein Leiden nicht gesucht hat: „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir!“ Aber Jesus hat auch nicht um jeden Preis sein Leiden vermeiden wollen: „Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ Dies sind nicht Worte einer fatalen Ergebenheit in den Willen einer allmächtigen und übergeordneten Instanz, die blinden Gehorsam fordert.
Jesus, der Gott als seinen Vater anredet, betet so in Treue zu seiner Botschaft. Die Botschaft war es, die seine Lebensgeschichte zu einer Leidensgeschichte werden ließ, und zwar durch die Teilnahme am Leiden anderer. Seine Botschaft war das mitgelebte, geteilte Leiden anderer. Er hat das fremde Leid zum eigenen gemacht – bis das Leid ganz bei ihm war. Er ist daran gestorben – bereit zur letzten Konsequenz.

So hält er selbst in uns die Erinnerung an Leiden und Tod, an Leidende und Tote wach. Wir können uns nicht leisten, Leidende und Tote zu vergessen. Wenn Gott das Leiden und den Tod als Zeugnis gewählt hat, dann müssen wir uns dem stellen, wenn wir unseren Glauben bekennen wollen. Für den, der auf Jesus schaut, gibt es niemanden, der aus dem Blick geraten darf, schon gar kein Leidender, Sterbender oder Toter. Wir glauben an die Auferstehung eines gescheiterten, leidenden und gestorbenen Christus. Vielleicht können wir dieses Geheimnis unseres Glaubens überhaupt nur entschlüsseln, wenn wir verweilen bei den Leidenden und Toten? Es ist schon viel, wenn wir spüren, dass das kein Appell ist, erst recht kein moralischer: „Wir müssen… oder müssten uns um diese Leute kümmern!“ Nein: Wir verkümmern ohne sie in unserer Mitmenschlichkeit – und in unserem Glauben!

Von Herzen eine intensive und fruchtbare Zeit der Vorbereitung auf Ostern wünschen Ihnen,

Lydia Bölle & P. Kornelius Maria