+ Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes Joh 15,1-8
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. Ihr seid schon rein kraft des Wortes, das ich zu euch gesagt habe. Bleibt in mir und ich bleibe in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen. Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten. Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger werdet.
„Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt…“
„…kraft des Wortes…“
„…bittet um alles, was ihr wollt.“
„…könnt ihr nichts vollbringen.“
Bleiben – das ist nicht nur das Lieblingswort des heutigen Evangeliums, sondern gefühlt ist es auch das am häufigsten verwendete Verb seit anderthalb Jahren! Von „bleib allein!“ über „bleib gesund!“ oder „bleib negativ!“ bis „bleib zuhause!“ treffen uns andauernd Wünsche und Aufforderungen zum Bleiben! Von A bis Z gilt allem und jedem: Bleib! Auch Johannes verwendet in seinem kurzen Text neunmal dieses Wort. Bleibt – und alles wird gut. Da ist er sich offenbar sicher. Der jeweilige Kontext führt allerdings zu einer sehr unterschiedlichen Färbung dieses Wortes. Während der biblische Text eher einen warmen und tröstenden, einen bestärkenden Klang hat, handelt es sich bei den Aufrufen zur Eindämmung der Coronapandemie um einen bedrohlichen und reglementierenden Tonfall. Während die einen mit dem Bleiben die Nähe betonen, ist für die anderen das Bleiben eher Ausdruck von Distanz. Das hat entsprechende Folgen. Die Jünger leben weiterhin ihren Auftrag und sind permanent unterwegs. Sie haben keinen Ort zum Bleiben. Sie wissen am Morgen noch nicht, wo sie die kommende Nacht verbringen können. Aber sie wollen bei und in Jesus bleiben! Dem gegenüber bedeutet das Bleiben zurzeit, möglichst da zu verharren, wo man ist, in den eigenen vier Wänden, im Zuhause, das bisweilen mehr und mehr zum Gefängnis wird.
Trotzdem: Zwischen der Nötigung, zuhause zu bleiben und dem Bleiben am Weinstock lässt sich durchaus ein Zusammenhang erkennen. Es ist ja erstaunlich, wie unglaublich schnell Umstände und Zustände eingetreten sind, die noch vor Monaten undenkbar schienen. Beinahe wie ein Mantra wiederholen die Medien, dass diese Krise unsere Gesellschaft nachhaltig verändern wird. In diesen Tagen, Wochen, Monaten, am Ende vielleicht sogar Jahren haben wir viel Zeit zum Überlegen: Was soll anders werden – und was kann bleiben? Und das ist etwas, was wir uns längst abgewöhnt hatten: konzentriert darüber nachzudenken, was Bestand hat, was aufrechterhalten werden soll und was begründet wegkann oder verändert werden muss.
Ich spüre ein eigenartig gespaltenes Verhältnis zum Bleiben. Einerseits ist Kontinuität eher langweilig, Tradition rückwärtsgewandt. Start-up ist interessant, Neuheit bedeutet Leben. Wer modern sein will, lässt nichts so bleiben, wie es ist. Er entledigt sich dessen, was mühsam geworden ist, seien dies veraltete Geräte oder auch Beziehungen, die nicht mehr optimal harmonieren. Andererseits ist Retro wieder in. Auch Traditionalisten werden neuerdings auf den Plan gerufen. Enge und Bewahrung machen sich wieder breit – individuell, politisch und kirchlich. Das bedeutet: Corona zwingt uns zum Nachdenken darüber, ob das Konzept des Wegwerfens und des sich ständig neu Erfindens wirklich Zukunft hat. Gleichzeitig macht uns die Pandemie wie in einem Brennglas darauf aufmerksam, wie gefährlich eine Verweigerung dem Neuen und Anderen gegenüber ist.
Schon sehr früh haben sich auch die Anhänger Jesu gefragt, was er denn meint, wenn er davon spricht, dass wir in ihm bleiben sollen. „Woran erkennen wir denn das?“ fragen sie und Johannes antwortet in seinem ersten Brief: „an dem Geist, den er uns gegeben hat!“ In der Lesung von heute wird klar, dass es um die Haltung geht, die Jesus gelehrt, gezeigt und vorgelebt hat. Wichtig ist nicht das Verweilen, sondern das Fortführen – und zwar das Fortführen seiner Liebe „in Tat und Wahrheit“. Die Geisteshaltung der Verantwortung und eine Gesinnung der Milde und Barmherzigkeit zeugen vom eigenen Bleiben. Und dabei ist nach Johannes immer auch klar: „Gott ist größer als unser Herz!“
Einen schönen und gesegneten Sonntag! Lydia Bölle