Es ist zugegebenermaßen eine reichlich abgedroschene Phrase, aber manchmal ist doch etwas dran: Jede Krise bietet auch eine Chance. Im Fall der Corona-Krise bestand meine persönliche Chance darin, endlich einmal nach Herzenslust im Baumarkt zu stöbern, ohne dafür kritisiert zu werden. Seine Frei-zeit in Baumärkten zu verbringen, ist bekanntlich eine Leidenschaft vieler Männer. Leider reagiert mein familiäres Umfeld in der Regel reichlich skeptisch, wenn nicht sogar spöttisch auf meine sporadischen Ankündigungen, noch einmal eben dringend in den Baumarkt zu müssen. Damit machen sie es mir schwer, meine Leidenschaft so auszuleben, wie ich gerne möchte. Angesichts der Corona-Bedrohung konnte ich aus der Not jedoch eine Tugend machen.
Mitfühlende Politiker, wahrscheinlich ebenfalls Männer mittleren Alters mit einer heimlichen Leidenschaft für gut sortierte Regale voller Werkzeug, Schrauben und Gartenartikel, hatten beschlossen, dass Baumärkte als systemrelevant einzustufen waren und deshalb geöffnet bleiben mussten. Kirchen waren geschlossen, die ungeschnittenen Haare hingen uns in langen Strähnen über die Ohren und Toilettenpapier wurde zu Höchstpreisen gehandelt, aber die Baumärkte trotzten als paradiesische Insel geordneter Normalität dem allgemeinen Chaos. Mir kam zu Ohren, dass dringend eine Coronaschutz-Trennwand hermusste, um im Rafaelshaus zumindest im kleinen Rahmen wieder eine Eucharistie feiern zu können. Vor noch gar nicht so langer Zeit hatte ich in einem Scheveninger Baumarkt Plexiglas-Scheiben gesehen. Mit ein bisschen handwerklichem Geschick sollte sich damit im Nullkommanix eine prima Trennwand schreinern lassen. Ich bot meine Hilfe an und – so ist das bei ehrenamtlicher Arbeit – ich hatte den Job!

An der Glastür eines wegen Corona geschlossenen Scheveninger Friseurs hing in dieser Zeit ein großes Hinweisschild. Darauf zu sehen: ein von hinten fotografierter Männerkopf mit grotesk verunstalteter Frisur und ein Warntext: “Schneiden sie auf keinen Fall selbst – irgendwann sind wir wieder für sie da!” Im Baumarkt hängen solche Warntexte nicht. Im Gegenteil: Baumarktwerbung bestärkt uns in der Überzeugung, dass jeder alles selbst machen kann und soll. Enthusiastisch betrat ich das Gebäude und machte mich auf den Weg zum Plexiglas-Regal. Zuhause hatte ich mit schwungvollen Bleistiftstrichen bereits einen ersten Entwurf zu Papier gebracht. Ich würde die Corona-Trennwand dreiteilig gestalten. Sie würde die erhabene Eleganz eines Tryptychons mit der kristallenen Transparenz des Plexiglases zu einem kippsicheren und dennoch platzsparend einklappbaren Meisterwerk des Tischlerhandwerks vereinigen. “Wieso willst du eine Wahlkabine bauen?” war der Kommentar eines meiner Söhne gewesen, als er die Bleistiftzeichnung inspiziert hatte. “Mach es besser so einfach wie möglich”, meinte ein anderer. Jugendlichen in ihrem Alter fehlt der fachmännische Blick für gestalterische Qualität.

Eine der tollen Eigenschaften eines Baumarkts ist, dass man alles genau dort findet, wo es hingehört. Zumindest wenn es vorrätig ist. Plexiglas war gerade nicht vorrätig. Plexiglas war bei den Kunden sehr gefragt, wegen der Corona-Krise. Es gab allerdings noch halb-transparente Kunststoff-Platten mit Wellenprofil.

Natürlich ließ ich mich nicht entmutigen. Dank Internet fand ich im Handumdrehen heraus, dass ein Baumarkt in Delft offensichtlich gerade eine Lieferung Plexiglas bekommen haben musste, denn dort waren die begehrten Platten noch vorrätig. Mit dem Auto ist dieser Baumarkt nur eine knappe halbe Stunde entfernt, wenn man sich nicht verfährt. Sich zu verfahren, ist im Zeitalter von Navigationssystemen faktisch ausgeschlossen. Vorausgesetzt natürlich, es ist im von Grachten durchzogenen Delft keine wichtige Brücke geschlossen, die das Navigationssystem fest in seine Planung einbezogen hat.

Nach einer guten Stunde stand ich im Baumarkt. Unter anderem hatte sich die Parkplatzsituation als angespannt herausgestellt, da enorm viele Männer mittleren Alters mit einer heimlichen Leidenschaft für Baumärkte sich offensichtlich gleichzeitig mit mir auf den Weg gemacht hatten, ihre Heimwerker-Träume zu verwirklichen. Dank meiner sorgfältig zusammengestellten Liste, die ich vorher ausgearbeitet hatte, da ich bei Baumarkt-Einkäufen erfahrungsgemäß immer ein wichtiges Einzelteil vergesse, bog sich mein Einkaufswagen bald unter Holzlatten, Plexiglasscheiben, Scharnieren und Leim. Während mir diese Einkäufe alle zwei Meter vom Wagen rutschten, fragte ich mich verwundert, wie sie zusammen so unglaublich schwer sein konnten, obwohl sie doch nur wenig später zu einem luftig leichten Gebilde mit graziler Eleganz zusammenfügen würden.

In der Erinnerung an meine Jugend in der deutschen Provinz verfügen Heimwerker typischer-weise über einen wohlsortierten Hobbykeller oder zumindest eine geräumige Garage, in der sie ihre Gerätschaften großzügig ausbreiten und ihren kreativen Tätigkeiten ungestört nachgehen können. Unser holländisches Haus ohne Keller und Garage verfügt dagegen über einem geräumigen offenen Küchenbereich, der sich ebenfalls ideal als Hobbyraum eignet. Man muss eben in Kauf nehmen, dass man nicht immer überall hintreten kann und dass, wenn man es doch tut, splittrige Holzspäne großflächig in die Socken eindringen und mit dem Baumwollgewebe eine dauerhafte Verbindung eingehen, die auch die Waschmaschine nicht mehr zu trennen vermag.

Ich denke, ich kann sagen, dass ich bei der Arbeit an der Corona-Trennwand einiges dazugelernt habe. Nicht nur handwerklich, sondern sogar sprachlich. Da sich meine Vorerfahrung im Möbelbau im Wesentlichen auf das Zusammenbauen von Ikea-Möbeln beschränkte, war mir von Anfang an klar, dass ich zur Verbindung der einzelnen Streben unbedingt Holzdübel brauchte, die ich in präzise vorgebohrte Löcher stecken und dann mit zusätzlichen Schrauben sichern würde. Zwar hatte ich dieses wichtige Einzelteil bei meinem Baumarktbesuch in Delft vergessen einzukaufen, aber ich wusste, dass es im Scheveninger Baumarkt sicher vorrätig sein sollte.

Ich wohne seit über 16 Jahren in den Niederlanden. Daher weiß ich nicht nur, dass Holz “hout” ist, sondern auch, dass Wanddübel “pluggen” heißen. Fachbegriffe Wort für Wort von einer Sprache in die andere zu übersetzen, ist eine naheliegende und oft erfolgreiche Methode, derer sich sowohl Deutsche als auch Niederländer gerne bedienen. Leider begriff der halbwüchsige Baumarkt-Mitarbeiter dennoch kein Wort von dem, was ich von ihm wollte. Stattdessen versuchte er, mir altklug zu erklären, dass man bei Holzarbeiten grundsätzlich keine Dübel verwende. Das sagte er ausgerechnet mir, der ich wahrscheinlich schon mehr Zeit mit dem Zusammenbau von Ikea-Möbeln verbracht habe, als er damit, Baumarktkunden sein jugendliches Halbwissen unter die Nase zu reiben. Dennoch nahm ich mir natürlich gerne die Zeit, meine Fachkenntnis mit ihm zu teilen, und erklärte ihm ausführlich Wesen und Funktion von Holzdübeln. “Ah, deuvels bedoelt u”, hellte sich irgendwann sein Gesicht auf. Ich verstand “duivels”, auf deutsch “Teufel”, und folgte ihm nur widerwillig zu einem abgelegenen Regal, bereit, ihm zu erklären, dass Teufel in Kirchenmobiliar ja wohl völlig fehl am Platze seien. Als er mir die Tüte mit den Holzdübeln (niederländisch “deuvels”) aushändigte, war ich aber gnädig bereit, ihm seine altkluge Art zu verzeihen.

Da ich nun alle Einzelteile zusammen hatte, verliefen die Arbeiten konzentriert und weitgehend zügig. Nach wenigen schweißtreibenden Abenden war ich soweit, dass ich die erste Plexiglas-Scheibe in den Rahmen einsetzen konnte. Dass ich die entsprechenden Aussparungen mangels Zeit und Lust nicht sehr geräumig gestaltet hatte, hatte den Vorteil, dass ich die Scheibe mit leichter Gewalt unter Spannung setzen und so ihren festen Sitz gewährleisten konnte. Nach ersten erfolglosen Versuchen bat ich meine Frau, mir zu helfen. “Hast du eigentlich gesehen, dass bei der Scheibe schon eine Ecke abgebrochen ist?” war ihre erste Frage. Mein jüngster Sohn war gerne be-reit, mir mit der Laubsäge einen Fisch auszusägen, den ich über der Bruchstelle befestigen und sie somit kaschieren konnte. So war kein Schaden entstanden.

Etwas ratlos machte mich nur die Tatsache, dass der versprochene Liefertermin bedrohlich näher rückte, mein ehrgeiziges Tryptychon-Projekt aber gerade einmal zu ei-nem Drittel fertig gestellt war. Gleichzeitig stellten sich Albträume ein, in denen ich einen Anruf des Bischofs bekam, der bis kommenden Mittwoch 12 weitere meiner Corona-Trennwände bestellte und auf einer pünktlichen Erledigung bestand. Außerdem war alleine der Mittelteil bereits so schwer, dass die gewünschte Transportabili-tät ein Problem werden könnte, geschweige denn von der Schwierigkeit, die Schar-niere so präzise anzubringen, dass das Endprodukt halbwegs kippstabil stehen würde. “Mach es besser so einfach wie möglich”, wiederholte mein Sohn seinen Rat.

Zu den Qualitäten eines guten Handwerkers gehört, dass er nicht sklavisch und eitel an seinem Erstentwurf festhält, sondern sich neuen Umständen mühelos anpassen und notwendige Änderungen flexibel in sein Projekt einarbeiten kann. Genau dies tat ich. Die nicht mehr benötigten Scharniere konnte ich problemlos zurückgeben. In den Baumarkt musste ich ja ohnehin, da mir zwischendurch das Holz ausging.

Ich kann nicht ohne Stolz sagen, dass ich in der Lage war, trotz der vielen Herausfor-derungen, die das Projekt handwerklich an mich stellte, eine Corona-Trennwand zu bauen, die aufrecht steht und sich bisher noch nicht in seine Einzelteile zerlegt hat. Dass ich die Bohrlöcher für die Holzdübel selbst bohren musste, hat die Sache nicht einfacher gemacht. Holz präzise auf Gehrung zu sägen, ist auch nicht jedem gegeben. Dennoch konnte ich bereits eine gute Woche nach Beginn des Projekts meine Familie in die Küche rufen (“Vorsicht, hier liegen noch Späne”) und mein Ergebnis prä-sentieren. “Eigentlich ist die Corona-Trennwand perfekt geworden, wenn ich mich auch einige Male ziemlich vertan habe, aber das sieht man nicht”, zog ich das Fazit meiner Arbeit. “Das sieht man wirklich nicht”, stimmte mein Sohn zu: “Wo ist sie denn perfekt?”

Lothar Hermes