Liebe Gemeinde!

Wann ist der richtige Zeitpunkt für was?
Welche Entscheidung ist genau jetzt dran?
Das fragen sich im Moment viele, besonders die, die große Verantwortung für andere tragen. Selten haben wir das Nebeneinander von Zeitdauer und Zeitpunkt so hautnah gespürt. Die Zeitdauer (der Corona-Krise) erscheint uns lang und zäh. Die einzelnen Zeitpunkte (der Krisensitzungen) versprechen zwar immer wieder neu Hoffnung, erinnern dann aber doch allzu oft an den Kinofilm „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Hier erlebt ein Mann einen bestimmten Tag immer wieder neu. Jeder Tag ist eine Wiederholung des vorherigen. Als Dauerschleife ist dann auch das wichtigste Ereignis im Jahr, nämlich der Moment, in dem das erwachte Murmeltier die Zukunft voraussagt, nicht mehr in der Lage etwas grundsätzlich zu verändern. Der entscheidende Moment verfehlt seinen Auftrag. Er kann aus dem Lauf der Dinge nicht erlösen. Genau so fühlt sich auch die Coronazeit mit ihren wiederkehrenden „persconferenties“ an.
Die Bibel verwendet grundsätzlich zwei ganz verschiedene Begriffe für Zeit. „Chronos“ meint den Zeitfluss, den wir in seinem Kommen und Vergehen täglich erleben. Der „Kairos“ ist demgegenüber der Moment denkbar dichtester Gegenwart. Es geht hierbei um den Augenblick, der mit seinen Möglichkeiten nie wiederkehrt. Für bestimmte Entscheidungen ist nur jetzt der richtige Moment.
Es ist dieses „Zeichen der Zeit“, es ist der „Kairos“, den Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern immer wieder vor Augen führt. Ansonsten ist es gar nicht zu erklären, geschweige denn nachzuvollziehen, dass die auserwählten Jünger in den Berufungserzählungen des Neuen Testamentes auf der Stelle alles stehen und liegen lassen und ihm folgen. Es hätte ja nach menschlichem Ermessen auch gereicht morgen oder übermorgen mit ihm zu gehen. Sie hätten aufbrechen können, wenn zuhause alles geregelt ist. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es ja wohl nicht an.
Aber nichts: keine Fragen, keine Zweifel, kein Nachdenken! Jetzt oder nie – vielleicht sogar bevor der Mut zur konkreten Umsetzung nachlässt! Es ist eine Entscheidung ohne Plan, ohne Kenntnis, ohne Absicherung, offenbar eine reine Beziehungsentscheidung. Besonders die ersten vier Apostel können nur seinetwegen mitgegangen sein. Von Anfang an hat ihre Geschichte mit Jesus den Charme und die Dynamik einer Liebesgeschichte. Sie müssen seinem Gespür für den rechten Moment getraut haben. Sie ahnten: Jetzt gilt es, diese einmalige Gelegenheit nicht zu verpassen. Eine Gelegen-heit, die nach Veränderung riecht. Und zwar nach einem Neuanfang nicht nur für sie persönlich, sondern generell.
Sie hatten ja längst die Erfahrung gemacht, an den vielen schlechten Lebensbedingungen der Menschen unter römischer Besatzung nichts ändern zu können. Aber nun angesprochen zu werden von einem, der nicht sich selbst verkündet, sondern das Evangelium Gottes, das hat die ersten Freunde Jesu offenbar überzeugt. Er ist anders als die Helden und (Ver-) Führer aller (auch unserer) Zeiten. Jesu unaufgeregtes Zuteilen einer Aufgabe, von der die Jünger noch nicht wissen, ob und wie sie sie erfüllen werden, hat offenbar unglaubliche Kraft. Seine Beauftragung ohne Pathos und Ideologie ist wohltuend. Sein selbstverständliches Beteiligen aller, die bereit sind als „Menschenfischer“ zu wirken, ist inspirierend. Es könnte sie beeindruckt haben, diese „kleinen“ Fischer, dass ihnen zugetraut wird, mit einer eigenen Entscheidung und einem ersten selbstgemachten Schritt die Welt zu verändern.
Und diese Berufung ist spätestens seit der Taufe auch unsere!
Auf los geht’s los! So sehr in manchen Situationen das Abwägen und Reifen einer Entscheidung richtig sein kann, so sehr ist in anderen das Zögern und Zaudern, das Warten auf das, was kommt und wie sich alles entwickelt, genau das Falsche. Vor lauter Corona-Chronologie die kleinen „Kairosse“ nicht zu übersehen, die unsere, ohnehin im Augenblick sehr kleine, eingeschränkte Welt tatsächlich verändern könnten, das ist möglicherweise die Berufung, die Jesus uns zuteilt. Unaufgeregt und selbstverständlich wie damals. Aber nicht weniger ernst gemeint!

Starten wir gemeinsam in ein neues Jahr, das sicher viele Überraschungen bereithält! Bei allem, was geschieht – bleiben Sie behütet!

Lydia Bölle, Pastoralreferentin