Liebe Gemeinde!

Das alte Jahr steckt uns allen noch in den Knochen. Zusätzlich wirft das eigentlich schon Vergangene auch noch seine Schatten voraus; und das in einem Maße, dass es uns geradezu müde machen oder lähmen kann. Das Gewesene ist nicht fertig. Und es macht das Zukünftige so wenig kalkulierbar. Dieser Jahreswechsel hat kaum etwas von einem Abschluss. Er fühlt sich eher wie ein nahtloser Übergang an. Denn unsere Zeitrechnung ist eine andere geworden. Sie richtet sich gefühlt nicht mehr zuerst nach dem Kalender, sondern nach der Pandemie. Es gibt die Zeit vor Corona, während Corona und nach Corona. Das Kriterium unserer Wahrnehmung von Anfang und Ende ist inzwischen dieses alle Lebensbereiche um-fassende Virus Covid 19.

Und das birgt die Gefahr, dass das, was gerade passiert, zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Denn es ist ja trotzdem so: Ich lebe jetzt. Ich kann nicht vorwegnehmen, was noch kommt. Ich kann nicht nachholen, was bereits gewesen ist. Mein Leben gehört dem Augenblick, dem jeweiligen Heute! Und das ist offensichtlich uraltes Lebenswissen. In dem Buch, dem ich vertrauen möchte, finde ich das Wort „heute“ 376-mal, das Wort „jetzt“ 647-mal. Die Menschen der Bibel sind überzeugt, dieser Augenblick heute ist der, der wichtig ist. Sie ermutigen dazu, jetzt zu leben.

Klar, wie so viele beschäftigt auch mich in diesen Tagen – trotz Corona – die Planung des begonnenen Jahres: Was muss bedacht werden? Was kann, will oder muss ich vorbereiten, wie, mit wem, bis wann, warum? Sicher, manches muss und kann ich nur er-warten, abwarten. Aber dieses Warten ist dennoch etwas Aktives, nichts Passives. Heute zu leben heißt für mich, Achtung und Respekt vor den Menschen zu haben, die gerade bei mir sind. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung: Wichtig ist Trost im Augenblick der Trauer. Danach ist er billig. Sinnvoll ist Ermutigung im Moment der Angst. Danach ist sie fast umsonst. Größer ist die Freude, wenn sie aktuell geteilt wird. Nach-erzählt ist sie nur halb so kostbar. An vielen Tagen lebe ich davon, dass andere erkennen, was in diesem Moment guttut. Wir brauchen Menschen, die heute mit uns leben, unter den Bedingungen wie sie nun einmal gerade sind. Das ist auch in einer Zeit der Krise so.

„Krise“ kommt begrifflich aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Entscheidung“. Damit ist also gar nicht irgendetwas gemeint, das ich einfach aushalten muss; nichts, an dem ich nichts ändern kann, sondern nur ohnmächtig ertragen und abwarten muss. Gut, an dem Virus und seinen verheerenden Eigenschaften kann ich unmittelbar tatsächlich nichts ändern, aber daran, wie ich mich in dieser Situation ihm gegenüber verhalte. Für welche innere Einstellung entscheide ich mich? Ich bestimme selbst, mit welchem Blick ich auf die momentane Situation schaue.

In den biblischen Erzählungen, in denen es von Krisen und der damit verbundenen Notwendigkeit sich zu entscheiden, nur so wimmelt, kommt das auch zum Ausdruck:

  • David steht einem viel zu mächtigen und starken Goliath gegenüber. Es ist zum Verzweifeln und Aufgeben.
  • Die Israeliten fliehen aus Ägypten und treffen auf das Rote Meer wie auf eine Mauer am Ende einer Sackgasse. Rettung ist nicht in Sicht.
  • Ein Vater hat eine schwer kranke Tochter und kann ihr nicht mehr helfen. Er ist mit seinen Kräften und seiner Kreativität am Ende.

Aber diese Erzählungen sind damit nicht zu Ende: Im Moment der Krise wird eine Entscheidung getroffen in Bezug auf die innere Einstellung. Es wird deutlich, wie und mit welchem Blick jemand auf die Situation schaut. Dass die Geschichten in der Bibel dann auf ihre Weise gut ausgehen, das hängt auch mit der inneren Entscheidung der Beteiligten zusammen; und mit dem Blickwinkel, der eingenommen wird – gerade dann, wenn es nicht in unseren Händen liegt, etwas gegen das zu tun, was bedrohlich auf uns zukommt. Dabei kann es sich um eine Haltung der Zuversicht, des (Selbst-) Vertrauens handeln, aber auch der Bereitschaft zu kämpfen und weiter zu machen. Oder auch um Gelassenheit, Ausdauer und Geduld. Sogar eine gewisse (positive) Aggression kann helfen. Wichtig ist, weiterhin selbst zu leben, nicht gelebt zu werden. Handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben – bei aller Ohnmacht, die nicht wegzudiskutieren ist – das erscheint mir notwendig, eben not-wendend!

Bleiben Sie behütet! Herzliche Grüße – auch im Namen von P. Kornelius

Lydia Bölle