Liebe Gemeinde!

Es gibt Menschen, die ganz in ihrer Welt, in der sie leben, aufgehen. Sie fühlen sich wohl, so wie sie sind, und haben alles, was sie brauchen oder sich wünschen. Sie sind zufrieden, auf der Erde zu sein. Sie wollen nicht anderswo sein oder hingehen, sie möchten sich auch nicht verändern. Sie leben die feste Überzeugung, dass ihr Platz da ist, wo sie gerade sind. Gut so! Aber es gibt auch Menschen, die die Welt, in der sie leben, als „nicht genug“ erleben. Sie wissen: Dies ist nicht alles. Sie wissen, dass sie die Zukunft suchen müssen. Solche Menschen haben oft einen ganz besonderen Sinn für Gott, ein Spürbewusstsein für den Weg Gottes mit jedem Einzelnen.

Ein solcher Mensch ist zum Beispiel Abraham. Er lässt das los, was er fest in Händen hat, und zieht einer Zukunft entgegen, die er noch nicht kennt, die aber – davon ist er fest überzeugt – voller Verheißung ist. Er verlässt das Sichere, das Überschaubare, Berechenbare um des Kommenden Willen.

Es muss solche Menschen geben, die den radikalen Aufbruch wagen, die so etwas wie „Kundschafter des Absoluten, Kundschafter der kommenden Welt, Wanderer zum Ewigen“ sind. Sie wissen, wir sind hier Pilger. Wir können die Zukunft nicht machen, sie wird uns gewährt. Aber wir müssen ihr entgegengehen. So ist das erste Wort, das Gott in der Bibel zu einem Menschen spricht: Geh! Dieses Wort Gottes steht am Anfang des Glaubensweges, des Weges mit Gott, für immer! Es scheint: Wenn man es mit Gott zu tun bekommt, dann muss man aufbrechen. Gott scheint ein Loslassen, ein Freiwerden, eine gewisse Unruhe oder Sehnsucht zu erwarten.

Die Sehnsucht ist dabei der Anfang von allem. Und die scheint letztlich doch an keinem Menschen vorbeizugehen, welche Konsequenzen sie auch immer haben mag. Sie ist wie eine Urbewegung des Menschen, die Gott in uns hineingelegt hat, um uns aneinander zu binden – und an sich. Denn die Sehnsucht ist die ständige Erinnerung an noch vermisste Liebe – Liebe zu den Menschen und zu ihm. Kaum ein Gefühl ist intensiver und auch zwiespältiger als dieses. Sehnsucht sucht die Erfüllung. Eigentlich ist sie auch mehr als ein Gefühl, mehr als ein diffuses, unkonkretes Empfinden. Sie ist Drängen, steht unmittelbar vor dem Tun.

Sehnsucht ist schon eine Art und Weise zu dem Vermissten Beziehung aufzunehmen. Sie ist eine schöpferische, lebenspendende Kraft. Sie hat etwas zu tun mit „zu den eigenen Quellen gehen“, aber auch „aus den eigenen Quellen schöpfen“. Sie zeigt eine Lebensfülle an, die darin – wenn auch verborgen – schon bei mir ist.

Sehnsucht zeigt mir, dass „Realitäten“ nicht der letzte Maßstab in meinem Leben sein können und dürfen, auch nicht – gegen alle Behauptungen – sein müssen. Ich muss nicht nur den Tatsachen, meinem momentanen Wissen trauen, sondern kann erleben, dass noch ganz andere Lebensräume offenstehen. Sie ist zielgerichtet. Gerichtet auf Gott und die Menschen. Die Bibel kennt neben Abraham viele sehnsüchtige Menschen. In ihren Gebeten, den Psalmen, liegt Sehnsucht offen – immer bereit von Menschen allerorts und zu jeder Zeit nachgesprochen zu werden. Dort ist spürbar, dass es eine fast heilige Unruhe ist, die Menschen immer wieder aufbrechen lässt, Gott und den Menschen zu begegnen.

Die ganze Kirchengeschichte, die Geschichte Gottes mit den Menschen durchzieht die Botschaft Gottes: „Geh!“ Alle Generationen haben in immer wieder neuer Weise versucht, dem Gestalt zu geben. Wenn es einem Bernhard v. Clairvaux oder einem Franz v. Assisi gelungen ist, Menschen zu lieben und diese lieben zu lehren, dann nur, weil sie sich selbst unwiderruflich gebunden haben an die Sehnsucht nach dem Gott des Lebens. Und dass diese Sehnsucht etwas entzündet, etwas in Bewegung bringt, dass sie nichts Heimliches oder gar Un-Heimliches ist, dass sehe ich schon daran, dass es solchen Menschen gelungen ist, tatsächlich einen Aufbruch in der Kirche zu verursachen, der viele „Anhänger“ gefunden hat.

Die Kirche hat im Laufe ihrer Geschichte viel Erfahrung mit der Sehnsucht gemacht, auch, dass sie Angst machen kann, dass sie revolutionär ist. Nicht umsonst haben so viele „Von der-heiligen-Unruhe-Angesteckte“, eben Heilige, zu ihren Lebzeiten keine Anerkennung gefunden. Die Kirche musste die Erfahrung machen, dass immer dann, wenn sie sich von ihren Quellen entfernt, sie Irrwege, den Menschen und Gott verletzende Wege geht. Sie hat ihre Sehnsucht verteidigen, aber auch läutern müssen.

Dass in ihr das „Sich-ausstrecken-zum Himmel“ sichtbar und erlebbar bleiben möge, das ist mein tiefer Wunsch.

Mit herzlichen Grüßen und allen guten Wünschen für einen Start in das neue Schuljahr

Ihre Lydia Bölle